Was ist meine Vorstellung von Inklusion?

 

In meiner ersten inklusiven theaterpädagogischen Arbeit bei den „Wolkenrollern Schüttorf“ merkte ich,

wie die Grenzen zwischen Menschen mit und ohne Handicap verschwammen.

Aus Rückmeldungen seitens der Zuschauer:innen weiß ich, dass sie die auf der Bühne stehenden Spieler:innen in den meisten Fällen nicht voneinander unterscheiden konnten in Bezug auf den Grad ihrer Beeinträchtigung.

Anfangs nahm ich dies als großen Erfolg wahr.

 

Doch ich war mir nicht bewusst, dass es sich nicht um eine Aufwertung der Menschen mit Handicap und auch nicht um eine Gleichstellung handelte, sondern in den meisten Fällen um eine Abwertung des ganzen Ensembles.

Während der Vorstellung versuchten die Zuschauer:innen die Spieler:innen zu kategorisieren und einzuteilen.

Auf meine Auflösung reagierten sie oft mit Erstaunen. „Was? Der ist ganz normal? Ich dachte der sei auch behindert. Also so wie der seinen Satz gesagt hat ...“

Ich merkte, wie jegliche Unzulänglichkeiten nicht, wie es eigentlich sein sollte, auf mich als Ko-Regisseurin, sondern direkt auf die Spieler:innen projiziert wurden.

Das war genau das Gegenteil von dem, was ich beabsichtigt hatte.

Paradoxerweise erzeugte der sogenannte „Mitleid-Bonus“, der flächendeckend über die Inszenierung gelegt wurde, dennoch durchweg positive Rückmeldungen seitens des Publikums.

 

In meiner Arbeit mit dem inklusiven Ensemble ging es mir nicht darum ein Höchstmaß an schauspielkünstlerischen Fähigkeiten zu erreichen und ein ästhetisch anspruchsvolles Werk zu schaffen, sondern hauptsächlich darum, die Spieler:innen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stärken und einen natürlichen ungehemmten Umgang der Ensemblemitglieder untereinander zu fördern. Da ich letzteres Ziel innerhalb der 14 Monate bei den Wolkenrollern erreichte, war ich trotz dem zuvor beschriebenen Desaster zufrieden mit meiner damaligen Arbeit.

 

Dann sah ich das Tanztheaterstück „Hexen“ von tanzbar_bremen in der Bremer Schwankhalle. Es war das beste Tanztheaterstück, welches ich in meinem bisherigen Leben gesehen habe und beeindruckte mich nachhaltig.

Auch dieses Stück war eine inklusive Inszenierung, welche Laienschauspieler:innen wie professionelle Tänzer:innen mit Handicap integriert.

Im Unterschied zu dem damaligen Stück der Wolkenroller ist „Hexen“ sehr professionell und mit einem hohen künstlerischen Anspruch gemacht. Bühnenbild, Kostüm, Licht, eigens komponierte Musik, Choreografien und Tanzeinlagen harmonierten bis ins Detail. Von Anfang bis Ende zogen mich der hohe ästhetische Schauwert und das Talent aller Spieler:innen in den Bann. Mit tosendem Applaus würdigten die Zuschauer:innen das Gesamtkunstwerk. Ich kann von mir sagen, dass in meiner Wahrnehmung die Beeinträchtigungen der Tänzer:innen völlig im Hintergrund standen.

 

Dieses Stück, bei dem mir auch zum ersten Mal der Begriff „mixed-abled“ (mit gemischten Fähigkeiten) begegnete, ist für mich der Inbegriff von Inklusion.

Professionelle Tänzer:innen mit und ohne Handicap erarbeiten gemeinsam mit einem Choreografen und Schüler:innen ein zeitgenössisches Tanztheaterstück, welches den Atem der Zuschauer stocken lässt.

Die Spieler:innen des Ensembles wollen sich als Künstler:innen ausdrücken, und sie sind es.

 

Inklusion ist für mich, wenn ich Menschen sehe, die gleichberechtigt miteinander interagieren und es nicht von Bedeutung ist, ob sie in irgendeiner Form beeinträchtigt sind oder nicht, denn Jede:r besitzt Fähigkeiten die er oder sie einbringen kann.

 

Hinzu kommt für meine Theaterarbeit außerdem, dass auf der Bühne

- die Spieler:innen ein Bewusstsein haben für das was sie tun und in der Lage sein sollten zwischen Realität und Schauspiel zu unterscheiden

- die Spieler:innen vor Ausstellung geschützt werden

- der sogenannte Mitleid-Bonus außer Kraft gesetzt werden soll.

 

Um Menschen mit Beeinträchtigungen den Zugang zu Kulturveranstaltungen zu ermöglichen, bedarf es außerdem barrierefreie Rahmenbedingungen wie beispielsweise Programmhefte in leichter Sprache, Wege für Rollstuhlfahrer:innen oder Gebärdendolmetscher:innen. 

 

Was bedeutet im Zusammenhang mit                   Inklusion "Ästhetik" für mich?

 

Ähnlich wie Reim und Rhythmus ästhetisch sind, wenn Grammatik keine Rolle spielt, so ist Theater, Tanz und Kunst ästhetisch, wenn die einschränkenden Eigenschaften des Künstlers/der Künstlerin keine Rolle spielen und es ihnen gelingt Zeichen (beispielsweise Sprachzeichen) als reine Zeichen zu senden.

Ästhetik zeigt sich für mich auch dann, wenn Menschen sich menschlich und verletzlich zeigen, wenn sie Stärke oder Schönheit zeigen, wenn sie ganz im Moment sind oder sich frei fühlen.

Es ist für mich nicht von Bedeutung im Zusammenhang mit Inklusion neu über Ästhetik nachzudenken. 

Es gelten für mich die gleichen Verhältnisse wie sonst auch.

Entscheidend ist wie immer die Frage um das Verhältnis von künstlerischem und pädagogischem Ansatz und wie wir Norm und Normalität mit unserer künstlerischen Arbeit beeinflussen können.

 

Was habe ich, ich als Mensch, von Inklusion?

 

In meinen Augen eine ganze Menge.

Ich glaube jeder von uns kennt das Gefühl in einer Situation außen vor zu sein.

In Deutschland gehöre ich einer religiösen Minderheit an und bin die äußerst verwirrten Blicke der Sachbearbeiter:innen bei Behördengängen inzwischen gewöhnt. Dass mein Glaube jedoch in den meisten Lehrbüchern nicht erwähnt wird und ich oft in die Kategorie „Sonstiges“ abrutsche, trifft mich bisweilen dennoch. Wo sind die schwarzen Polizisten, die jungen Eltern in Unternehmen, die Speisekarten mit Kennzeichnungen für Allergiker:innen, die kleinen Menschen ohne Modelmaße in den Zeitschriften, und die Migrant:innen, die Rentner:innen, die Tauben und die Rollstuhlfahrer:innen in den Superheldengeschichten oder Blockbuster unserer Zeit? [Stand 2014]

 

Wenn man allen Menschen das Gefühl von Wahrgenommen-Sein, Integriert-Sein, Angenommen-sein, Richtig-Sein, Akzeptiert-Sein und Wertgeschätzt-Sein vermitteln möchte, kommt man um Inklusion nicht herum.

 

Angenommen ich wäre nie einem Menschen begegnet, der anders denkt als ich, der anders spricht als ich, der sich anders verhält als ich, der anders aussieht als ich, der andere Fähigkeiten hat als ich (etc.), so wäre mein Leben um viele Erfahrungen weniger reich und mein geistiger Horizont nicht so weit, als wenn ich diesen Menschen in meinem Leben begegnet wäre.

Wenn ich hingegen lerne, dass es beispielsweise normal ist, dass meine Klassenkameraden oder die Bedienungen in einem Café in irgendeiner Form beeinträchtigt sind, aber dennoch ganz alltäglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, dann werde ich von Vorurteilen und Hemmungen mit diesen Menschen umzugehen befreit. Auch nimmt es mir Ängste. Beispielsweise die Angst von gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen zu sein, falls ich einen Unfall habe und fortan auf einen Rollstuhl angewiesen bin, oder aber die Angst davor ein körperlich oder geistig beeinträchtigtes Kind zu gebären.

 

Ohne Inklusion können nur schwer Ängste und Vorurteile mit der Realität abgeglichen werden. Und es scheint mir wichtig die Welt immer wieder von anderen Standpunkten und anderen Sichtweisen aus zu betrachten.

Genau das wird möglich, wenn Leute mit unterschiedlichen Levels von Intelligenz und Fähigkeiten zusammenkommen um gemeinsam zu arbeiten. Beispielsweise ein Nobelpreisträger gemeinsam mit einem gehirngeschädigten Kind. 

Für mich als Mensch, um auf die Frage zurück zu kommen, vermittelt das Streben nach Inklusion das Gefühl, dass jeder Mensch auf der Erde seinen Platz hat. Und das ist ein schönes Gefühl.

 

Eleonora Stark, 8. Februar 2014

Die Fragen wurden gestellt von Christian Judith, Geschäftsführer von k Produktion und Autor der Broschüre Handreichung und Checkliste für barrierefreie Veranstaltungen“.